Zu Fuß unterwegs

Neulich las ich zum Thema „mit xyz Wurzeln“, dem etwas feineren Ausdruck für die Schublade „mit Migrationshintergrund“: „Bäume haben Wurzeln, aber Menschen haben Füße – sie können sich bewegen.“ Das finde ich ein schönes Bild. Wir können stehen, ausruhen, uns anlehnen – aber wir können uns auch bewegen. Deshalb heißt dieser Beitrag „zu Fuß unterwegs“ und nicht „zu den Wurzeln“. Der Stoff und die Sprache für „Kawa“ gehen zurück auf Menschen, die Geschichten überliefert und sich dabei bewegt haben. 

Ein großes Vorbild

Meine Brücke in die Welt Kawas ist der Schriftsteller Yasar Kemal ( 1923 – 2015). In seinem Buch „Der Baum des Narren“ (Zürich 1997) sagt er über sich selbst als Neunjährigen: „Ich hatte beschlossen, mich in der Schule einzuschreiben, um in drei Monaten lesen und schreiben zu lernen. Damit ich den Wortlaut meiner Erzählungen nicht vergaß.“ Hier ist die Hierarchie von Wort und Schrift klar geregelt. Dass die kurdischen Erzählungen nicht schriftlich überliefert sind, ist kein Mangel, sondern die Folge der erzählerischen Freiheit und des künstlerischen Ausdrucks, die ein Dengbej in seine Geschichten legt. Als Kind wollte Kemal ein Dengbej werden, ein reisender Barde. Später wurde er Journalist, einer der ersten Journalisten im modernen Sinne, und gleichzeitig Schriftsteller.

Eigentlich wollte ich sein Buch „Die Ararat-Legende“ (München 1989) verfilmen. Für ein existierendes Buch Filmrechte zu bekommen, ist aber ein schwieriges Unterfangen, und es gelang mir nicht. Die Vorstellung für die Ästhetik meines Films (alle Personen als abstrakte Scherenschnitte, die sich rollend bewegen, die Hintergründe im Siebdruckverfahren, thematisch gebundene Farbklänge) entwickelte ich aber bereits an diesem Stoff. Lange dachte ich, es gebe die Ararat-Legende „wirklich“, sie sei eine Erzählung aus dem Volk. Doch Kemal hat entlang von Motiven aus Legenden einerseits seines eigenen kurdischen Sprachraumes und andererseits seiner Familie eine wunderbare neue Erzählung geschaffen, die sehr poetisch und wehmütig ist. Das ist seine Begabung als Dengbej, Vertrautes neu und packend zu erzählen.

Wenn man sich so ein berühmtes Vorbild nimmt, gilt man schnell als größenwahnsinnig und selbstverliebt. Da halte ich es allerdings mit Hermann Hesse: „Damit das Mögliche geschieht, muss immer wieder das Unmögliche versucht werden.“ Das Vorbild kann gar nicht groß genug sein, wenn es einen nur wirklich inspiriert.

Kurdische Märchen und Legenden als Quellen

Höchst interessant und hilfreich fand ich im Band „Kurdische Märchen“ (Luise-Charlotte Wentzel (Hrsg.), Köln 1978) das Nachwort von Otto Spies. Er schildert, wo und wie die Kurden leben (Stand 1978 …), wie ihre Sprachen entstanden sind und welche Rolle die mündliche Überlieferung spielt, wie und in welchen Sprachen die kurdischen Erzählungen gesammelt wurden. Die Märchen und Fabeln aus diesem Buch habe ich allerdings nicht verarbeitet. Sie sind oft lang, bestehen aus mehreren unabhängigen Teilen und  sind schwer zu verfolgen.

Einen freundlichen Einblick in seine Kindheit und die Schwierigkeiten beim heutigen Sammeln kurdischer Märchen gibt Bahman Bahrami (Kurdische Volksmärchen aus den mündlichen Überlieferungen des Jaff-Stammes, Göttingen 2015): „Mit dem Beginn des Globalisierungsprozesses in der Region verlor die Erzähltradition an Bedeutung.“  Die Kurden kämpfen nicht nur mit Vertreibung und Unterdrückung, sondern auch mit den technischen und gesellschaftlichen Zeiterscheinungen, die gerade alle Kulturen dieser Welt verändern!

Meine wichtigste Quelle wurde das Digitalisat des Bandes „Kurdische Sammlungen“ (Eugen Prym, Albert Socin (Hrsg.), St. Petersburg 1890). Hier fand ich Eingangs- und Endformeln („Es war einmal – Gottes Erbarmen sei mit den Eltern der Zuhörer – es war einmal einer namens Kulik … “ / „Du aber mögest mir gesund bleiben!“), Verse, Ausrufe, die allesamt vor meinem geistigen Ohr die Stimme eines Erzählenden heraufbeschworen. Melodien fand ich bei Bagrat Chalatianz („Kurdische Sagen“ in der Zeitschrift für Volkskunde 15 – 17, 1905 -07, Neuausgabe Berlin 2014). Seine Einleitung heute zu lesen, mutet merkwürdig an, doch den Abschnitt über „Die mythologische Bedeutung der Sagen“ und deren Anbindung an den mesopotamischen Kulturraum fand ich interessant.

Mein Kawa

Tatsächlich ist die Legende von Kawa nirgendwo niedergeschrieben, so weit ich weiß. Diese Tatsache ließ mir nicht nur rechtlich, sondern auch gestalterisch Freiheit. Eine Schilderung des Inhalts findet sich zum Beispiel hier.  Entscheidend dafür, dass ich seine Geschichte verfilmen wollte, war außerdem der Aspekt, dass die Legende lebendig ist und auch für junge Kurden eine Bedeutung hat. Özlem hat mir das vor Augen geführt, ihr kann ich gar nicht genug danken.

Nachdem ich viel gelesen und Özlem gut zugehört hatte, formte sich in meinem Kopf langsam die Geschichte von Kawa, wie ich sie gerne erzählen wollte: Im Tonfall eines Dengbejs, mit Anklängen an Märchen und Fabeln, poetisch wie Yasar Kemals Werke und mit modernen Botschaften, die sich gegen den Gedanken der Rache wenden und die Freiheit in der Fantasie und der Realität hoch leben lassen.

Eine besonders schöne und weithin bekannte Legende ist die von Mem und Zin, der kurdischen Entsprechung zu Romeo und Julia. Kawa brauchte ein zärtliches, liebevolles Zuhause. Außerdem begegnen dem Leser kurdischer Märchen oft Tiere, der Löwe, der Wolf, der Fuchs und natürlich das Pferd, interessanterweise vielfach Stuten. Klug, schnell, magisch und in der Eigenschaft des Boten treten die Vögel auf. Auf S. 51 der o.g. Kurdischen Sammlungen begegnete mir „mein“ Vogel, die Tochter des Vogel Simer. Sie kann menschliche Gestalt annehmen und ist damit eine Wandlerin zwischen den Welten.

Langsam wurde mir klar, dass sich auch Yasar Kemal an diesem Figurenvorrat der kurdischen Legenden „bedient“ hatte, allen voran natürlich an der traurigen Liebesgeschichte. Auch in der Ararat-Legende spielt ein Pferd eine wichtige Rolle und ein Vogel, der die Oberfläche des Van-Sees streift, erscheint wie ein Refrain immer wieder. Er erinnert den Leser an die paradiesische Schönheit der Natur, an der die Menschen sich erfreuen könnten – wenn sie nicht menschlich, schwach, unfrei und ohne Vertrauen wären.

Ich verwende den Vogel als ein Symbol für die geistige Freiheit. Als Kawa vom Vogel Teyre Simer und seiner Tochter erzählt, verlässt sein Geist die schreckliche Bedrohung des Alltags und schweift frei umher. So erholt und gestärkt, kann Kawa den rettenden Gedanken fassen: „Dem grausigen Dehaq bring ich das Falsche …“. Und später spricht Kawa: „Lasst die Kinder frei! Wer die Freiheit nicht denken kann, wird sie nicht erkämpfen!“ Ich hoffe, dass die Kurden, die hier Zuflucht gefunden haben, friedlich an einem gedanklichen und nationalstaatlichen Gebäude der Freiheit arbeiten können. Und damit bin ich letztlich wieder bei Yasar Kemal: Als Erzählerin politisch.

Im nächsten Artikel gibt es Auskunft zu Symbolen und Farbkonzept. So viel verrate ich schon: Das wird ganz schön grün.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert